31. KAPITEL

Der Weckruf riss Ami um kurz nach sechs Uhr morgens aus tiefstem Schlaf, ohne dass jedoch Ryan wach wurde. Ami legte den Telefonhörer auf, ließ sich auf das Bett zurückfallen und beobachtete ihren schlafenden Sohn. Gestern Abend war er ganz aufgeregt gewesen, weil er in einem Hotel übernachten, in einem vornehmen Speisesaal essen und auf ihrem Zimmer den Disneykanal schauen durfte. Nun schlief er so friedlich, dass sie unwillkürlich lächelte. Um sie herum herrschten Chaos und Tod, ihr Junge schien jedoch nicht davon berührt zu werden.

Ami hätte Ryan gern schlafen lassen, aber sie musste ihn zur Schule bringen. Dann würde sie in ihr Büro gehen. Seit die Tochter des Generals in ihrem Büro aufgetaucht war, hatte der Morelli-Fall fast ihre ganze Zeit in Anspruch genommen. Ami hatte allerdings noch andere Klienten mit dringenden Problemen, und sie konnte es sich nicht leisten, den ganzen Tag faul in einem Hotelzimmer herumzuliegen. Das hatte sie auch Brendan Kirkpatrick bei ihrem gemeinsamen Frühstück gestern Morgen erklärt. Der Staatsanwalt hatte dafür gesorgt, dass der Polizist, der sie bewachte, sie ins Büro fuhr, nachdem sie kurz nach zwölf Uhr aufgewacht war. Der Beamte hatte im Empfangsbereich Posten bezogen, bis sie Ryan von der Schule abholen musste.

»He, mein Kleiner.« Ami rüttelte sanft an Ryans Schulter.

»Zeit, aufzustehen.«

Ryan grunzte und rollte von ihr weg. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Wange.

»Mom, lass das!« Er mochte es nicht, auf diese Art geweckt zu werden.

»Dann schaff deinen Hintern aus dem Bett. Du hast Schule.« »Kann ich nicht hier bei dir bleiben?«

»Nein. Außerdem bleibe ich auch nicht hier. Ich muss arbeiten. Wenn du dich beeilst, können wir noch im Speisesaal frühstücken.«

Schlagartig war Ryan hellwach. »Kriege ich Pfannkuchen?« »Nur, wenn du nicht herumtrödelst. Also Beeilung!« Als Ryan sich die Kleidung nahm, die Ami für ihn herausgelegt hatte, klopfte es an der Tür. Der Wachposten würde niemanden hereinlassen, der ihr gefährlich werden konnte. Dann dachte sie an das, was mit den beiden Polizisten passiert war, die sie in ihrem Haus bewacht hatten.

Sie zog sich den Frotteebademantel des Hotels über und spähte durch das Guckloch in der Tür. Brendan Kirkpatrick schien geradewegs einem Männermodemagazin entstiegen zu sein. Sie dagegen sah aus wie eine Frau, die gerade aus dem Bett gestiegen war und sich noch nicht einmal die Zähne geputzt hatte. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich zu verleugnen, aber das würde natürlich nicht funktionieren. Der Wachposten wusste, dass sie das Zimmer nicht verlassen hatte. Außerdem benahm sich eine erwachsene Frau in einer solchen Situation nicht so albern, also öffnete sie die Tür und ließ den Staatsanwalt herein.

»Wie komme ich zu dieser Ehre?« Ami zog den Bademantel am Hals zusammen.

Brendan schien nicht zu bemerken, wie schrecklich sie aussah. Er lächelte sie an. »Sie sind außer Gefahr. Man hat die beiden erwischt.«

»Wo?« Ami fürchtete, dass sie in ihrem Blockhaus verhaftet worden waren.

»In Kalifornien. Ich habe noch nicht alle Informationen. Walsh hat mir nur gesagt, dass Wingates Sicherheitsleute die Tochter des Generals gerettet und auf sein Anwesen in der Nähe von San Diego gebracht haben. Rice ist in das Haus eingedrungen, um sie zurückzuholen. Er hat mehrere von Wingates Leuten getötet und verletzt, aber der General hat sie in seinem Haus in die Falle gelockt. Sie haben sich der Polizei gestellt.«

Ami war ihre Erleichterung deutlich anzusehen. Kirkpatrick vermutete, dass sie froh war, weil Rice nun hinter Gittern saß, wo er ihrem Sohn nichts mehr antun konnte. Ami war jedoch nur beruhigt, dass die Polizei nicht herausgefunden hatte, dass sie den beiden Flüchtigen geholfen hatte.

»Jedenfalls«, fuhr Brendan fort, »sind Sie in Sicherheit. Sie können noch heute Abend wieder nach Hause.«

»Das ist großartig.«

»Sie sind bestimmt erleichtert.«

»Allerdings. Seit Vanessa in mein Büro gekommen ist, hat sich dieser Fall zu einem Alptraum entwickelt. Ich hätte mich erst gar nicht darauf einlassen sollen. Eigentlich wollte ich Rice auch nie vertreten. Ich wollte nur einspringen, bis ein kompetenterer Anwalt den Fall übernehmen konnte.«

Brendan lächelte. »Für einen frischgebackenen Perry Mason haben Sie mir das Leben ganz schön schwer gemacht.«

»Gut. Ich werte es als Erfolg, dass Sie etwas Bescheidenheit gelernt haben. Vielleicht hacken Sie dann ja das nächste Mal nicht so schnell auf einer wehrlosen Frau herum.«

Brendan hob die Hände. »He, ich habe meine Lektion gelernt. Außerdem sind Sie sind alles andere als wehrlos. Ich wollte Ihnen nur die guten Neuigkeiten persönlich überbringen.«

»Danke.«

»Tja ...« Kirkpatrick wirkte etwas verlegen. »Ich muss ins Büro. Auf mich warten noch andere Fälle. Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder hier über den Weg.«

»Vielleicht.«

»Ich muss Sie möglicherweise als Zeugin aufrufen.« »Ich bin bereit.«

»Bis dann.«

Ami starrte Kirkpatrick nach, während sie die Tür schloss. Bildete sie sich das nur ein, oder benahm sich der Bezirksstaatsanwalt in ihrer Nähe so nervös wie ein Jugendlicher, der zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt war? Mochte er sie? Sie hatte ihn jedenfalls nicht gemocht, jedenfalls am Anfang nicht. Aber allmählich erwärmte sie sich für ihn. Wie würde sie reagieren, wenn er sie zum Essen einlud? Nein, er hatte sie ja gar nicht eingeladen, und sie würde dieses Problem lösen, wenn es sich stellte. Im Moment genügte es ihr, wenn sie Ryan zur Schule bringen konnte. Die Aufregungen der letzten Zeit reichten für ein ganzes Leben, und sie freute sich darauf, endlich wieder ihre normale, langweilige Existenz führen zu können

Die Schuld wird nie vergehen
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